Ein Schreibtipp, den auch Nichtautoren immer wieder von sich geben, ist: "Schreib, was Du kennst". Die Theorie dahinter ist, dass man das, was man am besten kennt, auch am besten und umfangreichsten beschreiben und die reichhaltigsten Geschichten daraus schöpfen kann.
Als Tipp für völlige Anfänger, die einfach irgendwas zum Schreibenüben brauchen, ist dieser Ansatz natürlich ebenso sinnvoll wie jeder andere. Aber das ist nicht, wie ich ihn immer wieder höre. Ich glaube, dieser Satz hat bei angehenden Autoren mehr Schaden als Gutes angerichtet. Fairerweise sollte man aber hinzufügen, dass die meisten den Rat falsch verstehen.
Sie verstehen "schreibe
nur, was Du kennst" und verbieten sich, über ihren eigenen Horizont hinauszudenken. Oder sie schreiben über etwas, zu dem sie nicht genug Abstand haben,um etwas Allgemeingültiges darüber sagen könnten. Und statt sich auf die Anforderungen ihres Genres oder die Konflikte ihrer Hauptfiguren einzulassen, halten sie sich an minutiösen Beschreibungen des Alltags in ihrem gewählten Setting auf, weil sie das "was Du kennst" nicht auf den Kern ihrer Geschichte beziehen, sondern auf deren Kulisse.
Was denken die Leute, die so was nachplappern, eigentlich, wo die ganzen Science-Fiction- und Horrorgeschichten herkommen? Glauben die, das alle Autoren von Spionagegeschichten selber Spione sind oder waren? (Okay, John le Carré. Und Ian Fleming...)
Es stimmt, dass genaue und detailorientierte Kenntnis deines Gegenstands eine Geschichte bereichern kann. Und wenn es sich um leicht überprüfbare oder allgemein bekannte Details handelt, dann
sollten die besser stimmen. Aber das ist nicht "schreib, was Du kennst", das ist "kenn, was Du schreibst". Völlig was anderes. Das ist Recherche. Die ist wichtig.
Richtiger wird der Satz in bezug auf die zugrundeliegenden Konflikte und Gefühle, um die es im Kern jeder Geschichte geht. Die Auswirkungen des Verrats, der deine Hauptfigur motiviert, kannst Du am besten beschreiben, wenn Du etwas ähnliches auch schon gefühlt hast. Aber selbst das sollte man nicht zu wörtlich nehmen. Viele haben versucht, ihren Liebeskummer wegzuschreiben, und heraus kam nur eine bittere und ziemlich einseitige (und dadurch eintönige) Abrechnung, die einfach nicht veröffentlicht gehört hätte. Wiederum: Abstand wäre besser. Und man muss gar nicht
genau dasselbe erlebt haben. Menschen sind gut darin, sich in andere einzufühlen, wenn sie nicht gerade Soziopathen sind.
Spätestens wenn es um den Abstand zum Geschriebenen geht, heißt "schreib, was Du kennst" halt auch immer "kenne den Schreibenden" - also dich. Deine Grenzen und deine Stärken, vor allem aber: Deine Motivation.
Für alle, die erst noch lernen wollen, kreativ zu arbeiten, ist der Satz natürlich besonders gefährlich. Denn er lädt einen gerade dazu ein, sich
nichts auszudenken. Nicht die Vorstellungskraft fliegen zu lassen und nicht dem ungewohnten neuen Impuls zu folgen, sondern lieber dem Bekannten, das Du auch garantiert beschreiben kannst, denn das hast Du idealerweise schon hundertmal getan.
Also genau das Gegenteil von dem, was Du tun solltest.
Schreiben ist immer auch entdecken. Wenn das, was Du da schreibst, schon hundertmal beschrieben worden ist, darunter dreißigmal von dir, was machst Du noch da? Schreib was neues. Etwas, das Du noch nicht kennst. Nur daran kannst Du als Autor wachsen.