Der m(ech)anische Comiczeichner

Max Vähling zeichnet Comics und redet darüber.


Montag, 18. Januar 2010
Hochformat, quergedacht
Herausbringen
Wenn in einem der vielen Foren, in denen ich herumhänge, über die Möglichkeiten von Webcomics diskutiert wird, was oft vorkommt, sagt eigentlich immer irgendwann einer so was wie:
"Webcomics müssen im Querformat sein, weil die meisten Bildschirme quer ausgerichtet sind. Das passt einfach viel besser in eine Webseite. Niemand will scrollen!" Und manchmal fügt derjenige noch hinzu: "Webcomics, die das Hochformat von den gedruckten Comics übernehmen, gucke ich mir gar nicht mehr an."
Ich übertreibe nicht. Sie sagen "müssen" statt "sollten" oder "könnten" oder "würde ich mir wünschen, bitte". Sie sagen "niemand" statt "ich". Und es gibt wirklich Leute, die lieber einen guten Comic verpassen, als ihn bis zur unteren Hälfte der Seite zu lesen.

Viele Webcomics bedienen das Querformat, teilweise mit einigem Geschick. Bereits früh hat sich der Comicstrip als beliebtes Online-Format durchgesetzt, nicht zuletzt weil er gut beim ersten Blick auf die Seite erfassbar ist. In den letzten Jahren werden auch immer mehr Comics, egal welchen Seitenformats, in Flash-Readern präsentiert, die technisch gesehen eine Art Browserfenster im Browserfenster darstellen, und zwar ein queres.

All das ändert nichts an der Tatsache, dass das Bestehen auf Querformat ziemlicher Blödsinn ist.

Gehen wir die "Argumente" mal einzeln durch.


"Webcomics müssen im Querformat sein, weil die meisten Bildschirme quer ausgerichtet sind."

Es stimmt, dass die meisten Computerbildschirme quer sind, aber das ist eine sehr schwammige Angabe, denn sie sagt uns weder etwas über die Größe des Bildschirms noch über das genaue Seitenverhältnis. Alte Bildschirme sind meistens im traditionellen 4:3-Bildschirmformat. Flachbildschirme dagegen kommen meist in, ja was ist denn das, 16:9? Jedenfalls viel breiter. Die sind auch meistens größer, da passt eine aufrechte Comicseite gerne auch mal vollständig rein, ohne Scrollen, aber mit viel Platz links und rechts.

Aber was wirklich zählt, ist das Browserfenster. Viele User surfen mit einem Fenster, das nur einen Teil des Bildschirms ausfüllt, weil sie nebenbei noch ICQ oder Skype oder wasauchimmer im Auge behalten wollen. Oft ist auch das Browserfenster selber noch unterteilt, links ist vielleicht eine Spalte mit Bookmarks oder RSS-Feeds, rechts ein Twitter-Client, so dass das eigentliche Surf-Fenster vielleicht doch wieder senkrecht ist. Außerdem weiß man nie, welche Menuteile der User offen hat, welche Vergrößerung oder Verkleinerung er eingestellt hat usw.

(Tablets und iPhones und das ganze Zeug lasse ich der Einfachheit mal heraus aus dieser Betrachtung. Nur so viel: Die Tablets machen das Argument noch hinfälliger, denn ein Tablet kann man drehen.)


"Das passt einfach viel besser in eine Webseite."

Webseiten können alle möglichen Seitenverhältnisse annehmen. Im Wesentlichen hängt das vom Inhalt ab.

Eine Webseite ist ein umfassendes Layout, von dem die Comicseite (ich gehe von einer Grafik aus, nicht von 'Infinite Canvasses' mit vielen Grafiken) einen Teil darstellt. Je nach Layout kann der Comicteil sonstwo sein und sonstwieviel Platz einnehmen. Strips präsentiert man am besten oben auf der Seite, mit nichts links und rechts davon, das kann alles drunter. Bei hochformatigen Comicseiten bietet sich an, die Web-Inhalte daneben zu platzieren, wie bei Warren Ellis' FREAKANGELS. Dann ist das Gesamtlayout quer, unabhängig von der Comicseite.

Meine ersten Online-Comics (damals sagte man noch nicht Webcomic) waren Leseproben aus den RECEPTION-MAN-Heften. Statt die Seiten zu "zerschneiden", habe ich sie in ein Seitenlayout eingebettet, deren linke Spalte sämtliche Blätterfunktionen enthielt. Das Gesamtergebnis war eher quadratisch.


"Niemand will scrollen."

Als ich zum ersten Mal im Netz war, wunderte ich mich, dass eigentlich alle Seiten, denen ich begegnete, längs ausgerichtet waren und nach der Fensterunterkante noch weitergingen. Damals wusste ich noch nichts von der Unberechenbarkeit der Fenstergrößen. Habe ich aber schnell gelernt, im Gegensatz zu den Leuten, die behaupten, dass niemand scrollen will. Ehrlich, wenn das so unerträglich wäre, hätten wir es längst abgeschafft.

Das Hochformat ist der Grundzustand im Netz. Sobald der Inhalt einer Webeite die Fenstergröße überschreitet, wird er nach unten weggedrückt, es sei denn, das wird beim Gestalten der Seite extra anders festgelegt.

Unfragen haben übrigens ergeben, dass Netznutzer nichts dagegen haben zu scrollen, aber (aufgepasst, das ist wichtig) nur in eine Richtung. Also nach unten ODER zur Seite. Lieber nach unten, denn das geht schneller. (Nein, die Quelle habe ich nicht mehr.) Ich kann mir auch vorstellen, dass das Scroll-Rad an der Maus damit zu tun hat: Wenn es nur eine Richtung gibt, dann muss man nichts anklicken, um mit dem Scrollrad in genau die Richtung zu scrollen. Wenn es zwei gibt, muss man mehr interagieren.

Was passiert jetzt aber, wenn jemand mit einem großen Bildschirm einen vermeintlich genau ins Web passenden Comic veröffentlicht? Genau, die Grafik ist so groß, dass ein User mit kleinerem Browserfenster in beide Richtungen scrollen muss. Schmalere, aufrechte Comicseiten, die man ausschließlich nach unten scrollen muss, kommen dagegen den Lesegewohnheiten der Netznutzer entgegen.

Der Standard, nach dem sich Webdesigner früher gerichtet haben, war 800x600 Pixel. Ich lege meine Comicseiten immer noch auf 700px Breite an. Das ist nicht wirklich nötig, weil kaum noch jemand solche Bildschirme hat, aber wie gesagt, man weiß ja nicht, mit welcher Fenstergröße die Leute unterwegs sind.


"Webcomics, die das Hochformat von den gedruckten Comics übernehmen, gucke ich mir gar nicht mehr an."

Nee, sorry, dazu fällt mir im Grunde gar nichts mehr ein.

Nach welchem Format soll man also einen Comic ausrichten? Ist doch ganz einfach: Was vom Comic her das richtige ist. Wichtig ist nur, dass der Comic auf Anhieb zu sehen ist, am besten auf der Startseite.

Bei Gag-Strips bietet sich tatsächlich an, sie so zu gestalten, dass sie nicht über das Ausgangsfenster hinausgehen, denn die Leser dieser Strips wollen alles auf einen Blick erfassen können. Leser von längeren Comics dagegen bringen mehr Zeit mit und scrollen auch gerne mal ein bisschen, wenn ihnen der Anfang der Seite gefällt.

Aber ganz ehrlich? Lasst euch nicht von Leuten beeinflussen, die allgemeingültige Sätze über Comicformate formulieren. Und schon gar nicht von irgendwelchen Ingnoranten, die nicht scrollen wollen. Die wollen nämlich im Grunde auch nicht lesen.

... Kommentieren

Speichern/Mitteilen
Der m(ech)anische Comiczeichner
xml version of this page Abonnieren
Menu
Startseite
Mission Statement
Kategorien:
Arbeitsorganisation
Herausbringen
Inspiriertwerden
Planen
Schreiben
Verkaufen
Vernetzen
Zeichnen

E-Mail-Abo

Deine Email:

Abonniere den Feed dieses Blogs per Mail!

Delivered by FeedBurner

Web
Aktivitäten:
Jählings Webseite
Jähling's English site
Jählings Tweets
Patreon
Umfeld:
LOA
PANEL online
Comicforum

Inspiration:
Millus: Wie werde ich Comiczeichner?
Frank Plein: Der Comic im Kopf
Daniel Gramsch: Aicomic - Zeichenkurs
Lachwitz, der
I Should Be Writing
Jane Espenson
John Rogers
John August

Suche
 
status
  • Einloggen

  • Blogger.de Startseite
    Creative Commons Lizenzvertrag
    Der m(ech)anische Comiczeichner von Max Vähling ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.

    ©2006-2016 Dreadful Gate Productions. Impressum und Kontakt.