"The thing about a screenplay is that what's inside is never a lie (unless you are claiming it's based on a true story. Then it's just usually a lie)."
Scott the Reader
"Nur ein Gedanke: Wenn Fiktion die Kunst ist, erfundene Dinge zu erzählen, ohne zu lügen - ist dann Non-Fiktion die Kunst, zu lügen, ohne sich etwas auszudenken?"
Ich (bei Twitter)
Ich kenne eine Frau, die wie ich in Bremen aufgewachsen ist, sich aber nicht als Bremerin fühlt. Bremen ist ihr zu klein und piefig. Also erzählt sie Leuten, die sie nicht so gut kennt, sie sei aus Hamburg. Das ist auch nicht ganz falsch, denn sie ist in Hamburg geboren, nur gelebt hat sie da praktisch nie. Ihre "formativen Jahre" hat sie in Bremen verbracht. Dass sie aus Hamburg ist, entspricht damit zwar den Tatsachen, ist aber nicht die Wahrheit.
Dieses Beispiel zeigt schon: Wahrheit und Wirklichkeit sind zwei grundverschiedene Dinge. Wer Fiktion schreibt, sollte sich dessen immer bewusst sein. Nicht nur weil es das Wesen der Fiktion ist, erfundene Dinge zu erzählen, ohne zu lügen. Sondern weil man sich manchmal zwischen den beiden entscheiden muss.
Ich schreibe am liebsten spekulative Fiktion, also meilenweit von dem entfernt, was die meisten von uns als Wirklichkeit akzeptieren. In meinen Geschichten gibt es Monster, Superhelden, Aliens und fliegende Autos. Trotzdem halte ich sie für realistisch. Weil ich Wert auf ernstzunehmende, nachvollziehbare Charaktere lege, die ich dann in meine manchmal nicht ganz so ernstzunehmenden Situationen stecke. Eine stereotype TV-Schmonzette vor dem Hintergrund irgendeiner geschichtlich verbürgten Katastrophe kann sich dagegen noch so sehr an die Ereignisse halten. Es bleibt eine Schmonzette. Ein plumper Versuch, Authentiziztät durch Realitätsbezug zu gewinnen. Als könnte die Realität des Hintergrundes auf die Schmonzette im Vordergrund abfärben. Vom Hauptproblem guter Fiktion lenken diese Machwerke ab: Ist die Geschichte IN SICH relevant? Erzählt sie etwas Erzählenswertes über die Welt, die Menschen oder irgendwas anderes, das uns angeht?
"Realistische" Fiktion ist kein Qualitätsmaßstab, sondern ein Übergenre für Dramen, Krimis, Liebesgeschichten und ähnliches. So wie "spekulative" Fiktion ein Übergenre für Science Fiction, Horror und so weiter ist. Man könnte noch weiter gehen und sagen, die "realistischen" Geschichten sind einfach fantasieloser, aber ich werde mit meinen Argumenten bei gewissen Lesern eh schon einen schweren Stand haben, da muss ich sie nicht auch noch für doof erklären.
Der Unterschied liegt im Verständnis von "wirklich" - oder besser, in einer Verwirrung darüber, was wahr ist, was real, und was nur der Wirklichkeit entspricht. Als Autor von Fiktion bin ich nicht der Wirklichkeit verpflichtet, sondern der Wahrheit, die dahinter liegt. Meine Geschichten sollen nicht realistisch sein, sondern real. Gute Fiktion ereignet sich vor meinen Augen, und ich habe beim Lesen keinen Zweifel daran, das alles, was ich sehe oder mir vorstelle, genau so passiert. Genau jetzt. Mit genau diesen Charakteren. Wenn sich dieser Eindruck nicht einstellt, hat der Autor seinen Job nicht richtig gemacht.
Die Möglichkeiten, mit ausdrücklichem Bezug auf die Wirklichkeit zu lügen (sprich: den Fakten die eigene Deutung anzudichten) sind unendlich. Selbst ein Dokumentarfilm hat eine Dramaturgie. Die Informationen, die der Filmer zur Verfügung hat, werden ausgewählt, nicht unbedingt nach dem Gusto des Autoren, sondern manchmal auch nur danach, wovon es verwertbare Bilder gibt.
Auch mit Fiktion lässt sich lügen. Am offensichtlichsten passiert das, wenn eine Geschichte behauptet, ein Ereignis originalgetreu wiederzugeben. Es gibt immer dramaturgische Anpassungen, und mit der Wahl einer Erzählperspektive schließt man alle anderen aus. Das ist schon bei unumstrittenen Begebenheiten schwierig genug. Noch schlimmer ist es, wenn die Ereignisse nur lückenhaft bekannt sind. In jedem Fall lässt sich leicht mal eine subjektive Deutung der Fakten als "die" Wahrheit einer Begebenheit verkaufen.
"Wahre" Begebenheiten, wie die Vorspänne von Filmen manchmal behaupten, gibt es nicht. Begebenheiten sind nicht wahr oder unwahr. Sie sind passiert oder nicht, und manchmal sind sie passiert, aber anders. Wahrheit bezieht sich nie auf die Fakten, sondern immer auf die Deutung und Wertung der Fakten. Noch verräterischer ist das englische "based on a true story". Eine "wahre Geschichte" ist rein fiktiv, denn genau das ist ihre Wahrheit. Richtiger als "nach einer wahren Begebenheit" wäre demnach "nach einer Begebenheit, die sich so oder anders tatsächlich zugetragen haben soll, je nachdem, wen man fragt".
Die Fakten selber sind warheitsneutral. Dafür stehen sie der Deutung offen, darin liegt ihre Wahrheit, aber auch die Möglichkeit zur Lüge. Die Fakten stehen der Wahrheit oft sogar im Weg, weil auch der Autor der Fiktion das erstmal alles auseinanderwuseln muss. Manchmal muss man die Wirklichkeit beiseite schieben, um einen klaren Blick auf die Wahrheit dahinter zu erhaschen. Da schreibe ich lieber meine ehrlichen Monster- oder Superheldengeschichten.
Die sind alle nicht passiert, aber jede einzelne ist wahr.