Der m(ech)anische Comiczeichner

Max Vähling zeichnet Comics und redet darüber.


Mittwoch, 21. Januar 2009
Sechs Geschichten und ein literarischer Essay (in 1400 Worten)
Schreiben
In unregelmäßigen Abständen versuche ich, auch mal was anderes als Comics zu schreiben. Damit meine ich nicht Blogartikel, Tweets oder Forenbeiträge, die schreibe ich ja eh dauernd. Ich meine Kurzgeschichten und so was. Einfach um meinen Horizont breit zu halten.

Allerdings bin ich ein wenig verwöhnt. Comics zu schreiben ist eine sehr anspruchsvolle Angelegenheit, wenn man es gut machen will. Der Trick ist, die Geschichte, die man erzählen will, so zu komprimieren, dass das Wenigste tatsächlich geschrieben werden muss. Der Großteil der Geschichte spielt eh nicht in, sondern zwischen den Bildern und ist nicht Teil der Informationsmenge. Aber auch das, was man sieht, ist zum guten Teil bereits im Bild zu sehen, das muss man ja nicht in den Texten wiederholen. Das macht Comics zu einer der dichtesten Literaturformen, die es gibt.

Deshalb fällt mir alles andere so schwer zu schreiben. Genaugenommen fällt mir das Schreiben sogar ziemlich leicht, aber dann kommt mir das alles so schwülstig und geschwätzig vor, dass ich mehr kürze als schreibe, und am Ende habe ich fast nur Dialog.
Olga reagierte blitzschnell. Mit einer beiläufigen Handbewegung schlug sie dem verdutzten Agenten das Tablett aus der Hand. Als es zu Boden fiel und sich die Abdeckung löste, kam eine 9mm zum Vorschein, die der gegnerische Agent dort statt des bestellten Bratens versteckt hatte. Olga und der feindliche Agent stürzten sich gleichzeitig auf die Pistole, aber Olga (immer noch blizschnell und mit dem Schwung ihrer vorigen Bewegung) war eine Milisekunde schneller als der Agent (immer noch verdutzt). Sie rollte sich elegant ab, um Abstand zu gewinnen, und richtete die Waffe auf den Agenten. "Na?", spottete sie, "eisenhaltige Nahrung heute?"
Ehrlich, wie hält man so was aus?

Dagegen:
Bild 1
Olga wirbelt herum und schlägt dem Kellner das Tablett aus der Hand. Die Abdeckung löst sich, und ein Revolver ist zu sehen, wo eigentlich der Braten sein sollte.

Bild 2
Olga stürzt sich schwungvoll auf die Pistole, die jetzt am Boden liegt. Der Kellner/Agent im Hintergrund setzt ebenfalls an, ist aber erkennbar langsamer.
Olga: Na?

Bild 3
Olga hockt sprungbereit am Boden (die Haltung, die man hat, nachdem man sich abgerollt hat und auf den Füßen aufgekommen ist). Sie richtet die Waffe auf den verdutzten Agenten/Kellner.
Olga: Eisenhaltige Nahrung heute?
Schnell, auf den Punkt, und ich muss nicht mal nachschlagen, wie dieses Käseglockendings für Braten wirklich heißt.

Ich will damit nicht mal sagen, dass Prosaautoren grundsätzlich Laberköppe sind. Obwohl, bei einigen Büchern habe ich mich schon ertappt, wie ich im Kopf ganze Kapitel strich. Was ich dann, wenn ich selber was schreibe, auch gerne und großzügig tue.
Blitzschnell schlug Olga dem verdutzten Kellner das Tablett aus der Hand und stürzte sich auf die darin versteckte 9mm, die jetzt zu Boden fiel. Sie richtete die Waffe auf den feindlichen Agenten im Kellnerkostüm. "Na?, spottete sie, "Rache, kalt serviert?"
Dann lieber gleich Flash Fiction. Je nachdem, wen man fragt, sind das Kurzgeschichten von einigen hundert Worten (manchmal bis hundert, manchmal bis fünfhundert oder tausend). Da kommt man nicht ins Labern. Die letzte Kurzgeschichte, die ich angefangen habe, endete bei 650 Worten. Eigentlich hatte ich noch ein Kapitel schreiben wollen, aber es war schon alles gesagt. Seitdem habe ich mich noch ein-, zweimal an Flash Fiction versucht, aber irgendwie war mir das dann auch zu viel Text.

Seit ich einen Twitter-Account habe, überlege ich stattdessen, Twitterfiktion zu schreiben, Kurzgeschichten von bis zu 140 Zeichen.
Blitzschnell schlug Olga dem Ober das Tablett mit der versteckten 9mm aus der Hand. "Na?", grinste sie den enttarnten Gegner an, "auf Diät?"
Das hat einen besonderen Reiz, denn es kommt wirklich auf jedes Wort an. Ach was, auf jeden Buchstaben. Übrigens bin ich nicht der einzige, der diese Idee hatte. Mir sind allein schon zwei Twitter-Zines bekannt, die tweetlange Kurzgeschichten veröffentlichen: thaumatrope und Outshine. (Genaugenommen veröffentlicht Outshine keine Kurzgeschichten, sondern "Prose Poems", aber das kann Kurzgeschichten umfassen.)

Einige dieser Geschichten sind tatsächlich sehr inspirierend. Kurzweilig ja sowieso. Nur, vieles liest sich nicht wirklich wie Geschichten. Das Problem ergibt sich bei allen rein formalen Vorgaben. Ob es darum geht, einen Comic ohne Worte zu erzählen oder eine Geschichte mit wenigen, es schiebt sich ein konkurrierender Anspruch zwischen den Autoren und seinen Erzähldrang - es geht nicht mehr um den Inhalt, sondern um die Form. Ging mir schon bei der WIRED-Ausgabe mit den "Very Short Stories" so.
Blitzschnell entwaffnet. Agent enttarnt. Olga: "Na?"
Wired hatte eine Idee von Ernest Hemingway aufgegriffen, der gewettet hatte, er könnte eine Kurzgeschichte mit nur sechs Worten schreiben. (Er konnte, und was für eine.) Über 90 Autoren schrieben eigene Sechs-Wort-Geschichten für Wireds Hemingway-Hommage. Leider lasen sich die meisten davon eher wie Sprüche oder Überschriften - das Gefühl, etwas erzählt zu kriegen, stellte sich nicht immer ein. Das ist die größte Gefahr beim Kurzfassen. Dass am Ende nicht unbedingt eine Geschichte da steht. Hemingways Kunststück bestand darin, die eigentliche Geschichte außerhalb der Informationsmenge stattfinden zu lassen (wie im Comic). Aus seinen sechs Worten erfahren wir nur, dass "nie getragene" Kinderschuhe angeboten werden. Die Tragödie, die dazu geführt hat, dass offenbar jemand Anlass hatte, Babyschuhe zu kaufen, aber keinen mehr, sie zu benutzen, erschließt sich erst danach. Ausgelöst durch sechs Worte, spielt sich die Geschichte vor unserem inneren Auge ab, ohne eigentlich erzählt zu werden.

Die Zeit muss man sich aber schon nehmen. Das ist das andere Problem. Kurz-Kurzgeschichten verlangen dem Leser einiges ab, damit der nicht gleich zur nächsten Geschichte springt und die erste Geschichte unverdaut bleibt. Deshalb kann man sie auch nicht einfach hintereinander weg präsentieren, etwa auf einer Zeitschriftenseite. (Das ist ein Gedanke, mit dem ich gerade für GATE CRASH spiele.) Dann rattert man die nur noch durch:
FLIRT. Sie nickte. Auf bulgarisch hieß das "nein". Was ich nicht wusste. Oberflächlich betrachtet, verstanden wir uns bestens.

DUO. Er wollte wie Lennon sein. Das machte mich zu McCartney. Wir brauchten weder George noch Ringo. Am Ende aber auch keine Yoko.

PLATITÜDE. "Die schönsten Geschichten schreibt das Leben", sagte er und widerlegte sich sogleich. "Nimm mich zum Beispiel..."

PATT. Er hätte zufrieden sein sollen, aber er wollte sicher gehen. "Wirst Du mich ewig lieben?" Sie bat um Bedenkzeit. Würde er ewig warten?

BELAGERUNG. Ausharren. Tagelang. Irgendwann rief Joe: "Lockvogel!" Ich glaube, er wollte nur raus aus der Uniform. Aber das Kleid stand ihm.
Ganz schön anstrengend, was? Stellt euch das mal als Lesung vor. Um einen Abend zu füllen, müsste ein Autor nicht nur, sagen wir, neunzig Geschichten schreiben, sondern neunzigmal die Aufmerksamkeit des Publikums einfordern - und sie neunzigmal belohnen. Wer schon mal eine Anthologie zusammengestellt hat, weiß, dass der Trick im geschickten Durchmischen der kurzen und langen Beiträge liegt. Das ist bei Lesungen nicht anders. (Es gibt wohl eine hypothetische Mittellänge, bei der es nicht so drauf ankommt, aber die liegt deutlich über 140 Zeichen oder auch nur 500 Worten.)

Was wäre eine angemessene Präsentationsform? Ich könnte mir ein SMS-Abo vorstellen, oder eine Art "Dial-a-Story" im Stil von They Might Be Giants' "Dial a Song". Ein eigenes Twitterzine oder kunstvoll gestaltete Seiten in GATE CRASH.

Zu den Vorteilen der Kurz-Kurzfiktion gehört, dass man länger und intensiver über jede Formulierung nachdenkt. Welche Informationen sind unersetzlich? Welches ist die Schlüsselszene? Wie kann ich diesen Satz umformulieren, dass er noch kürzer wird - und zwar ohne dass er an Prägnanz verliert? Erstaunlich, wie viele Variationen einem einfallen, wenn's drauf ankommt.
Ein Schlag, und das Tablett lag am Boden, daneben die darin versteckte 9mm. "Na?" grinste Olga den verdutzten Spion an, "auf Diät?"
(131 Zeichen. Fehlt außerdem an Action.)

Mit einer Bewegung schlug Olga dem Spion das Tablett aus der Hand und bemächtigte sich der darin versteckten 9mm. "Na?, grinste sie, "auf Diät?"
(144 Zeichen. Muss sie sich eigentlich bemächtigen?)

Fast beiläufig schlug Olga dem Spion das Tablett mit der versteckten 9mm aus der Hand. "Na?", grinste sie, "auf Diät?"
(118 Zeichen, kann ich ja eigentlich noch was wieder reinnehmen. Vielleicht das mit dem Enttarnen. Und natürlich das "blitzschnell".)

Blitzschnell schlug Olga dem Kellner das Tablett mit der versteckten 9mm aus der Hand. "Na?", grinste sie den enttarnten Gegner an, "auf Diät?"
(143. Jetzt müssen Synonyme her.)
Eigentlich sollte man die gleiche Mühe auch auf jeden Satz in längeren Texten verwenden, aber wer tut das schon?

Als Lernerfahrung sind solche Twitterstories schon mal eine feine Sache. Als Literatur können sie es sein. Man lässt aber jede Chance auf "ernstzunehmende" Prosa hinter sich, denn erstens handelt man sich einen Ruf als spinnerter Querkopf ein, und zweitens wird man noch ungeduldiger gegenüber allzulangen Texten. Naja, muss ich mir meinen Ruf halt weiter mit Comics schützen.

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