Wer sich in Internet-Nischen bewegt und hofft, da gelegentlich ein wenig Geld zu verdienen, kennt natürlich
THE LONG TAIL. Der "lange Schwanz" (im Deutschen würden wir vielleicht "Rattenschwanz" sagen, klingt auch weniger peinlich) ist in einer Verkaufszahlentabelle der ganze Kram jenseits der Bestseller. Die Kurve der Verkäufe läuft immer flacher aus, und die meisten Produkte von welcher Art auch immer sind in diesem Schwanz. Hier eine Grafik von
Chris Anderson, der den Begriff geprägt hat:
Das ist an sich noch nichts Besonderes. Interessant wird es durch zwei Faktoren: Der Rattenschwanz beinhaltet all die Bücher oder Filme oder Comics, die man in einem normalen Geschäft schon aus Platzgründen nicht findet, denn sie verkaufen sich so selten, dass sich der Platz im Regal nicht rechnet. Aber - das ist der erste Aspekt - sie verkaufen sich. Einmal im Monat, alle paar Monate, vielleicht einmal im Jahr. Und weil der Rattenschwanz fast unendlich lang ist, bringen sie alle zusammen mehr ein als alle Harry-Potter-Bücher zusammen.
Und der zweite Aspekt: Sie verkaufen sich nicht im Laden, denn da stehen sie nicht. Sie verkaufen sich im Internet, denn da gibt es Anbieter mit potenziell unendlichem Angebot. Das ist eine gute Nachricht für die Betreiber von Portalen wie Lulu und eBay, die ihren Umsatz mit Produkten machen, die sie gar nicht vorrätig haben und deshalb nicht teuer lagern müssen. Es ist auch eine gute Nachricht für die Produzenten von Nischenprodukten, wenn auch nicht ganz so. Die gute Nachricht ist, dass es die Nischenprodukte überhaupt mal in so was wie einen Laden schaffen. Die schlechte ist, dass sich die Dinger immer noch nicht öfter verkaufen als je einmal im Monat oder alle paar Monate oder wann auch immer.
See you later, Aggregator
Als Nischenanbieter interessiert mich so was natürlich. Aber praktisch im Sinn von "direkt relevant" ist es nicht. Oberflächlich betrachtet, ist die Lektion, die jemand wie ich aus dem Long Tail ziehen kann: "Lass es und mach einen Internet-Comichandel auf." Die einzigen, die mit Independent-Comics richtig Geld machen, sind eh die Händler. Viele Nischenproduzenten tun genau das: sie gehen mit ihrem Angebot in die Breite. Ich ja auch:
Lulu,
Comic-Marktplatz,
Spreadshirt,
mein eigener Shop - und überall mehrere Ausgaben derselben Produkte.
Wir dürfen nicht vergessen: THE LONG TAIL richtet sich nicht an Produzenten, sondern an die sogenannten Aggregatoren, also die Anbieter großer Produktmengen. Ihnen empfiehlt Anderson etwa, die Aufmerksamkeit von den bekannten Produkten auf weniger bekannte zu richten. Der Anbieter kann dadurch seinen Umsatz verdoppeln, und der Nischenproduzent hat auch was davon. Amazon tut das beispielsweise mit dem Hinweis auf "ähnliche" Titel, auf verwandte Fachgebiete und auf andere Bücher, die Käufer des angeklickten Titels gekauft haben. Solche Weiterempfehlungen sind leider immer noch nicht selbstverständlich. Lulu zum Beispiel schließt den Long Tail aus ihrer Suchroutine aus, wahrscheinlich um die Ergebnislisten zu entrümpeln. Wenn ich also "Superheld" eingebe, einen der Tags, die ich zum
Reception Man/Olga Stark-Doppelalbum eingegeben habe, erhalte ich diesen etwas ruppigen Kommentar:
Was ein Angebot "interessant" macht, scheinen die Aufrufzahlen der Detailseiten zu sein. Jedenfalls ist das das einzige Kriterium, in dem das Doppelalbum, das
Conny-Album und der
Reception-Man-Download gegenüber den älteren Jähling-Angeboten bei Lulu abfallen. Nicht weil sie weniger beliebt wären - sie sind nur einfach noch zu neu, um viele Treffer produziert zu haben. Kein Wunder, wenn niemand sie beim Stöbern finden kann. Sollte es nicht gerade im Sinn von Lulu sein, die neuen Angebote hervorzuheben? Selbst wenn sie nicht dran glauben, die unbekannten Angebote bekannter zu machen?
Immerhin verweisen meine Produktseiten auch auf andere Lulu-Produkte, die die Käufer meiner Comics gekauft haben - also meine anderen Comics. Von solchen Empfehlungen und assoziativen Links lebe ich als Kleinverleger.
True Fans Are Hard to Find
Seit Anderson das Long-Tail-Mem in die Welt gesetzt hat, gab es mehrere Versuche, aus diesem Gedanken auch eine Perspektive für die Produzenten einzelner Werke zu entwickeln. Es geht dabei weniger darum, über den Long Tail einen Hit zu landen als darum, sich in ihm einzurichten. Man muss keinen Hit produzieren, um von seiner Kunst leben zu können. Klar ist es nett, einen Blockbuster zu landen, aber seien wir realistisch, die meisten von uns werden das nie tun. Stattdessen können wir eine kleinere, aber engagiertere Menge von Fans ansprechen. Damit es sich auch rechnet, reicht es laut
Kevin Kelly, eine begrenzte Menge von "wahren" Fans zu halten, die nicht mal zwischendurch dies und das kaufen, sondern immer alles. Kelly nennt 1000 als kritische Masse, aber die Zahl ist aus der Luft gegriffen. Wenn jeder dieser Fans einen Profit von 100$ im Jahr einbringt, sind das 100.000$. Keine Madonna-Gage, aber gutes Geld.
Der Nachteil des Modells liegt natürlich in der Umsetzung. 100$ Profit, das sind mindestens 200$ Umsatz, und in der Preislage muss man erst mal produzieren, jedes Jahr 20 Conny-Alben? Müssen ja auch erstmal gezeichnet werden. Musiker können touren, um die nichtvorhandenen CD-Verkäufe auszugleichen (und dabei gleich noch ein paar CDs verkaufen), aber was machen Comiczeichner für ihre 1000 Fans? Ausstellungen? Merchandising? Lesungen? Naja, wie gesagt, die Zahl ist aus der Luft gegriffen. Es müssen nicht 100.000$ sein, und es müssen auch nicht genau 1000 Leute sein. Mir würden zum Beispiel 20.000€ im Jahr völlig reichen. Bei 1000 Leuten sind das 20€ pro Nase, bei 500 Leuten auch nur 40€.
Die Länge und die Breite
Mit der Zeit hat mein eigenes Angebot auch einen Long Tail. Wenn man lange genug dabei bleibt, häufen sich die Einstiegsmöglichkeiten für neue Fans. Wichtig ist, dass ich nicht, wie ich's mal vorhatte, die alten Angebote nach und nach aus dem Verkehr ziehe, sondern alles stehen lasse. Das es sich z.B. bei
Reception Man Nr. 0 und
terrain vague auch innerhalb meines Angebots um Long-Tail-Produkte handelt, ist das ja nicht viel Arbeit. Man muss aber schon beides leisten: immer neues schaffen, damit die alten Fans einen Grund zum Dranbleiben haben, und die alten Sachen verfügbar halten, denn je breiter dein Angebot, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie dich finden.
Und dann gibt es noch die größten aller Aggregatoren, die Suchmaschinen. Allein dadurch, dass meine Webseite seit 2000 im Netz ist, hat sie einiges an Google-Speck angesammelt. Im Long Tail mancher Suchanfragen macht sie sich gut. Natürlich weiß man nie genau, wofür man am Ende bekannt sein wird. Die häufigsten Suchanfragen, die zu meiner alten Webseite geführt haben, waren "Adorno Jazz" (zu einem soziologischen Aufsatz, der auch auf der Seite war) und "Fünfziger Jahre Design" (zu einem Text über das Farbdesign von Graf X).
Habe ich schon darüber nachgedacht, dieses Wissen auszunutzen und mehr Kapital aus den Themen zu schlagen? Aber sicher. Schließlich sind sie im "Long Tail" meiner Suchthemen ganz oben. Allerdings kann ich auch nicht einfach meine Webseite zur Adorno-Jazz-Seite umbauen, denn das wäre beliebig. und Beliebigkeit würde sich auf Dauer rächen. Wenn die Neuen nicht das Charakteristische an Deinem Angebot sehen, wird es ihnen auch egal sein, was als nächstes kommt. Sinnvoller ist es, eine erkennbare Nische zu besetzen.
Deine eigene kleine Ecke
Seth Godin hat vor kurzem drei Märkte auf dem Long Tail identifiziert, die man anvisieren kann: Den Blockbuster, über den wahrscheinlich alles gesagt wurde. Den Schwanz selber, der aber wie gesagt eher für Händler attraktiv ist. Und einen Bereich in der Mitte, der jede erdenkliche Nische sein kann. Die Herausforderung ist nicht, den großen Erfolg in der Breite anzuvisieren, denn das würde - für mich jetzt - bedeuten, mit Asterix und Disney zu konkurrieren. Das Ziel ist, in meiner Nische der Beste zu werden. Der erste Schritt ist, die richtige Nische zu definieren. Und wenn dabei die Nische immer kleiner wird, damit ich oben drauf passe, habe ich entweder diesen Gedanken entlarvt oder den Zen-Weg zum (subjektiven?) Erfolg gefunden.
Immerhin, wenn ich das ausdauernd genug mache, kommt mir das Phänomen entgegen, das Kevin Kelly als
"Long Tail of Love" vorgestellt hat. Auf den ersten Blick ist das nicht viel mehr als ein Trostpflaster für alle, die es auf dem Markt nicht schaffen. Der Gedanke: Je weiter Du auf dem Long Tail herunterrutschst, desto weniger Fans findest Du zwar, aber die sind umso begeisterungsfähiger, schon alleine weil sie ewig gebraucht haben, dich zu finden. Ich halte es durchaus für einen Maßstab von Erfolg, wenn eine Platte, die vor zwanzig Jahren mal fast ein Hit geworden wäre, heute noch jemandem wirklich etwas bedeutet. Diese Erfahrung hat Dieter Bohlen mit seinen Wegwerfprodukten nicht. Da muss er sich dann mit seinen Unmengen Geld drüber hinwegtrösten.
Wer mal reinlesen will, kann sich an Andersons Blog halten (siehe oben) oder an das
bei Change.org erschienene Gratis-Ebook, in dem die wesentlichen Gedanken aufbereitet sind.