Bürokratie ist diejenige Staatsform, in welcher es niemanden mehr gibt, der Macht ausübt; und wo alle gleichermaßen ohnmächtig sind, haben wir eine Tyrannis ohne Tyrannen.
[Hannah Arendt: Macht und Gewalt]*
Gut, dass
Hannah Arendt das Internet nicht kannte. Oder vielleicht schade, denn es wäre sicher interessant gewesen, wie sie, die bereits die Bürokratie als Vollendung des Despotismus entlarvt hat, die automatisierten Auschlussmechanismen der vernetzten Welt gedeutet hätte. Denn so wunderbar das Internet ist, solange alles funktioniert, so gnadenlos kann es sein, wenn etwas schiefgeht. Statt mit Menschen hat man immer mehr mit Skripten, AGBs und anderen Algorithmen zu tun, die nicht individuell und kreativ auf Probleme reagieren, sondern automatisierte, standardisierte Prozesse zuordnen. Die verbleibenden Sachbearbeiter sehen ihre Gegenüber immer weniger als Kunden und immer mehr als Datensätze oder gleich als
DAUs (dümmmste anzunehmende User), die man auf Distanz halten muss. Das Übel ist, dass der Umgang mit Problemen nicht als Teil des Serviceangebots betrachtet wird, sondern bestenfalls als leidige Pflicht, die man irgendwie vom Tisch haben will. (Wenn nicht gleich als nervige Quengelei der Kunden.) Darin kommt ein Mangel an Respekt gegenüber den Kunden zum Ausdruck, die immerhin ein berechtigtes Interesse an einer Lösung haben.
Schlechtes Benehmen und Ignoranz gibt es natürlich auch außerhalb des Netzes, aber hier werden sie gewissermaßen elektronisch verstärkt. Nachfragen werden als böswillige Kritik begriffen und durch Missachtung bestraft. Inkompetenz und Überheblichkeit erzeugen eine Art Rückkopplung, und es entsteht etwas neues, das noch perfekter, geschlossener und unmenschlicher ist als jede Bürokratie.
Übersehen wird dabei, dass auch Bürokratien eigentlich nur funktionieren, weil es Menschen gibt, die ihre Härten ausbügeln. Die das richtige Formular aus der falschen Schublade nehmen, weil sie wissen, dass es in der dafür vorgesehenen nicht ist. Die immer noch eine Sonderregelung kennen und auch mal einen Fall völlig falsch einsortieren, weil sie wissen, dass er sonst nicht gelöst wird. Kurz: Die das System unterwandern, einfach indem sie darüber hinausdenken. Erst das Internet macht solche Störfaktoren überflüssig und vollendet das Versprechen der Tyrannis ohne Tyrannen.
Ein paar mehr oder weniger aktuelle Erfahrungen:
1)
Der Netzprovider einer von mir betreuten Webseite hat diese gesperrt, weil Dritte darüber Spams verschickten. Unbequem, aber verständlich - wenn so was passiert, muss man schnell reagieren, damit nicht der ganze Server von Vierten als Spamschleuder kategorisiert wird. Ich hätte mich auch sofort rangesetzt, um den Fehler zu beheben - nur hat es niemand für nötig gehalten, uns von der Sperrung zu unterrichten. Ich habe davon erst erfahren, als ich nicht mehr auf die Seite zugreifen konnte. Dann musste ich erst noch eine E-Mail schreiben und ein paar Tage warten, bis ich erfuhr, was eigentlich los war. Genauere Informationen (welche Art Hack? Über welches Skript?) musste ich einzeln erfragen. Wobei jede Mail von einem anderen Servicemenschen beantwortet wurde, der sich an den bisherigen Verlauf des Gesprächs natürlich nicht erinnern konnte. Offenbar wird die Kommunikation mit den Kunden bei diesen Leuten nicht sehr hoch geschätzt und nur als Abwimmeln von Anfragen verstanden. Das erklärt auch den herablassenden Ton, in dem die Antworten verfasst waren.
2)
Ein großer Internethändler hat durch eine Fehlbuchung auf meinem Konto das Geld für eine Bestellung aus seinem Second-Hand-Bereich nicht erhalten. Die Bestellung wurde ausgeliefert, dann erhielt ich per Mail die Aufforderung, mich in mein Nutzerkonto einzuloggen und die Bezahlung dort zuende abzuwickeln. Bevor ich das tun konnte, erhielt ich eine zweite Mail, dass mein Nutzerkonto wegen der fehlerhaften Abbuchung gesperrt sei.
Aufgrund einer zweiten Bestellung gab es noch ein wenig Hin und Her, so dass es vier Wochen dauerte, bis ich (auf mein zweites Nachfragen) die Antwort erhielt, ich solle den Betrag überweisen. Nochmal zwei Tage später kam endlich eine Mail mit Konto- und Buchungsnummer für diese Überweisung. Nicht als Antwort auf eine meiner Mails - es war eine "Zahlungserinnerung", die sie wohl eh geschickt hätten. Jedenfalls gab es keinen Hinweis auf die bisherigen Mails. Egal, ich überwies und wartete. Als das Warten nicht mehr zu helfen schien, wollte ich eine dritte Mail schreiben, fand aber keinen passenden Anfang. Die Mails waren nämlich alle von einem Einweg-Server gekommen, ohne Antwortmöglichkeit, also musste ich jedesmal ein Formular aufrufen und alles von vorne erklären. Stattdessen rief ich diesmal an. Der Bearbeiter versprach, sich zu kümmern. Welche Erleichterung! Die sich erst bei der darauffolgenden Mail etwas legte:
"Ihre im Betreff genannte Bestellung, ist ein [Second-Hand]-Kauf und
kann als solcher leider nicht per Ueberweisung gezahlt werden. Um den Betrag zu begleichen, nutzen Sie bitte den Link in unserer E-Mail '[...] Zahlvorgang abgelehnt'."
Besagte Mail war die erste, die ich gekriegt hatte, und besagter Link der zu meinem GESPERRTEN Nutzerkonto. Mein erster Eindruck war also richtig. Das WAR Pfusch. Und die einzige Mail, die mir weitergeholfen hatte, die mit der Kontoverbindung, war ein Fehler innerhalb des Systems, denn die hätte ich nie kriegen dürfen. Wäre das System ungehindert gelaufen, hätte es mich weiterhin konsequent von jeder Möglichkeit ausgeschlossen, das Problem zu lösen.
3)
Unlängst erhielt ich eine Mail von einem nicht näher genannt werden sollenden T-Shirt-Produzenten, dass eins meiner Motive nicht in deren allgemeines Maktplatzangebot übernommen werden könne. Wörtlich schrieb der Anbieter:
"Diese Motive bzw. Produkte verstoßen mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen gewerbliche Schutzrechte oder Persönlichkeitsrechte Dritter. Wir haben obige Motive und Produkte zeitweilig deaktiviert. Du hast beim Hochladen durch Aktivierung einer Checkbox bestätigt, dass Du die Nutzungsrechte an diesem Motiv besitzt. Um unserer Sorgfaltspflicht als Plattformbetreiber nachzukommen, fordern wir in Einzelfällen einen schriftlichen Nachweis über dieses Recht."
Gerade in Bezug aufs Urheberrecht ist das Internet ein Minenfeld geworden, in dem sich alle nach jeder Seite ständig absichern und vergewissern zu müssen glauben. Ich verstehe also, dass sich dieser Anbieter absichern will, auch wenn ich als Urheber dagegen bin, dass in meinem Namen so ein Unsinn verzapft wird. Leider verlangte der Anbieter Unmögliches. Also schrieb ich zurück:
"Was den Nachweis angeht, dass ich die Nutzungsrechte habe - ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie das gehen soll. Nicht, weil ich sie nicht hätte, sondern weil es sich um eine logische Unmöglichkeit handelt. Ich habe das Bild gezeichnet und unter meinem Pseudonym Max Jähling veröffentlicht (...). Eine Bestätigung des Inhabers des Urheberrechts kann ich als Urheber gerne schreiben, aber ich weiß nicht, ob Euch das reicht, weil das ja ich bin. Eine Bestätigung eines anderen Rechteinhabers kann ich nicht aus dem Hut zaubern, weil es außer mir keine gibt."
Ein paar Tage später erhielt ich die Mail, dass die Sperre aufgehoben wurde und da wohl jemand übervorsichtig gewesen wäre. Ich muss auch, gerade vor dem Hintergrund des Beitrags, betonen, dass sich dieser Anbieter soweit korrekt verhalten hat: Einen Kommunikationskanal geöffnet und mir die Gelegenheit gegeben, auf die Vorwürfe einzugehen. Aber dass die Vorwürfe überhaupt entstehen konnten, ist ein Zeichen der Techno-Tyrannnis. Im Zweifel gegen den Angeklagten, statt einfach mal nachzugucken.
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Irgendwie haben sich diese Erlebnisse im Laufe des letzten Jahres gehäuft, ich weiß nicht warum. Vielleicht haben die Kritiker recht, das Internet macht dumm, und jetzt zeigt sich das so langsam? Eins weiß ich jedenfalls: So was mutet man Kunden nicht zu.
Mit einem
respektvollen,
flexiblen,
persönlichen Service (thanks for the examples,
Seth Godin) kann man dagegen auch, wenn der Karren schon im Dreck steckt (sprich: etwas schiefgelaufen ist), noch punkten. Gerade ich mit meinem Kleinstgeschäft habe glücklicherweise die Möglichkeit, es besser zu machen (Weniger Kunden, mehr Zeit, mich um sie zu kümmern.) Muss ich auch. Nur so können wir Kleinen uns von den Großen abheben. Hier also meine Lehren aus den Beispielen, meine...
Benimmregeln für den Umgang mit Online-Kunden:
1. Nicht pfuschen. Das sollte uns schon mal eine Menge Beschwerden vom Hals halten.
2. Wenn was schiefgeht, nicht mit vermeintlich praktischen Lösungen den Kunden auf Distanz halten. Stattdessen: Einen Kommunikationskanal öffnen. Und diesen Kanal offenhalten, bis das Problem gelöst ist. Wer nicht möchte, dass die Kunden, gerade die, die dazu neigen, sich zu beschweren, einen ständigen Direktzugang durch die Preisgabe der E-Mail-Adresse haben, kann zum Beispiel folgendes machen: Für jede Anfrage eine E-Mail-Adresse einrichten und als Reply-to-Adresse in die Mails setzen. Etwa vier Wochen nach Lösung des Problems kann man die Adresse dann löschen und Platz machen für andere Kurzzeitadressen.
3. Eine individuelle, dem Fall angemessene Lösung finden. Allgemeingültige Lösungen und Routinen haben in dieser Welt auch einen Platz, als Lösungsvorschläge, auf die zurückgegriffen werden kann. Man muss halt im Kopf behalten, dass die nicht immer ganz passen. Manchmal gibt es auch gar keine Lösung, etwa wenn die Post eine Sendung verloren hat. Dann muss man das erklären, aber ohne selbstgefällig zu werden. Vielleicht einen Trostpreis anbieten. "Du hast das Buch nicht gekriegt? Tut mir leid, ich kann Dir nicht ohne weiteres ein neues schicken, aber hier hast Du die Downloadfassung, gratis."
4. Freundlich bleiben. Das sind Deine Kunden, die Du da wegbeißt. Sie haben gerade ein schlechtes Erlebnis mit deinem Geschäft gehabt, und jetzt brauchen sie eine Rückversicherung, dass es sich trotzdem auch in Zukunft lohnen kann, mit Dir Geschäfte zu machen.
Eigentlich ist das alles selbstverständlich und läuft auf eine simple Wahrheit hinaus: All die oben genannten Probleme wären mit ein bisschen Kommunikation zu lösen gewesen.
Wir Autoren haben es immer gewusst: Erst der Konflikt, der Umgang mit Krisen- und Grenzsituationen, bringt den wahren Charakter zum Vorschein.
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*) Wenn ich einen Begriff schaffen sollte, unter dem das hier beschriebene Phänomen in Zukunft verhandelt wird, würde ich eigentlich lieber "Cyber-Despotie" nehmen, das ist irgendwie klangvoller als "Techno-Tyrannis". Aber der Gedanke, der beiden Begriffen zugrunde liegt, geht nun mal auf Hannah Arendts Kritik der Bürokratie zurück, und sie hat halt "Tyrannis" gesagt und nicht "Despotie". (Jedenfalls in den Quellen, die ich zur Hand habe.)